Leseprobe 2

Die 1000 Nadeln des Herrn I.

Kennen Sie das? Sie packen ein neues Hemd aus und haben erst einmal die Mühe, die vielen Stecknadeln zu entfernen, und dann, wenn Sie meinen, es geschafft zu haben, entdecken Sie noch eine und noch eine...oder Sie lassen ein Kleidungsstück umändern und stehen da, müssen sich drehen, nach rechts und links und der Schneider steckt die Nadeln fest und beim Ausziehen - ganz vorsichtig, bitte! - pikst es überall.

Herr I. ließ sich einen festlichen Anzug schneidern, für die Hochzeit seiner Schwester. Musste sein, der alte passte nicht mehr, wie es so geht.

Anprobe: Da stand er also und ließ den Schneider das neue gute Stück begutachten. Es fehlte hier und spannte da, musste geändert werden. Stecknadeln über Stecknadeln.

„Und jetzt ganz vorsichtig ausziehen!"

Ja, sicher, wer ist hier nicht vorsichtig? Herr I. war es, langsam zog er die Anzughose aus.

„Autsch!"

„Nur eine kleine Nadel", entschuldigte sich der Schneidersmann und lächelte.

Herr I. lächelte auch, zog seine Alltagskleidung an und machte sich auf den Weg in die Firma, war schon spät. Unterwegs zwickte es ein wenig an der rechten Schulter. Oh weh, doch noch eine Nadel? Schnell verschwand er in einem Hauseingang und fühlte nach. Ja! Eine Stecknadel mit blauem Plastikkopf. Herausgezogen und fortgeworfen. Fall erledigt, nicht wahr?

Ein paar Schritte weiter pikste es irgendwo an der linken Schulter. Die gleiche Prozedur, diesmal war es eine gelbe Nadel. Kurz darauf stach es in der Brust und im Rücken. Nun zog Herr I. gleich seine Jacke aus, das Hemd und das Unterhemd. Ein Hausbewohner blickte ihn befremdlich an, aber Herr I. zog rasch das Hemd wieder über den Kopf, nahm die Jacke über den Arm und lief eilig in die Firma. Mein Gott, schon halb zehn!

Tür auf und an den Schreibtisch. Hinsetzen und einen Stift in die Hand nehmen, doch - au! - am rechten Knie stach etwas. Wieder eine Nadel, aber diesmal ohne buntem Plastikkopf, denn sie hatte sich auch durch den Stoff gebohrt, saß fest. Herr I. zog und zog, keine Chance. Bombenfest.

„Ich war beim Schneider, Anprobe", versuchte er dem Arzt zu erklären, zu dem ihn seine Kollegen gebracht hatten. Ein kleiner chirurgischer Eingriff war nötig, um die Nadel zu entfernen. Verband, gute Worte und wieder zurück ins Büro. Setzen. Setzen? Am linken Bein bohrten sich Nadeln durch den Stoff, am Knie, an der Wade und hinterrücks. Rechts stachen gleich ein Dutzend der Quälgeister heraus und perforierten seinen Oberschenkel. Gleichzeitig zwickte es im Nacken...

Herr I. verschwand auf der Toilette, zog sich aus und fand seinen Körper übersät mit 1000 Nadeln. Blut floss, blaue Flecken überall. Nackt lief er hinaus, die Treppe hinunter, aus der Fabrik auf die Straße. Baustelle, Sand, er sprang hinein, wälzte sich herum. Der Sand vermischte sich mit seinem Blut, blieb kleben...

Die Polizei wurde gerufen.

„Ein Fakir!", jubelte ein junger Beamter, wurde aber von einem älteren Kollegen gestoppt. Man brachte Herrn I. in die Klinik. Dort wurden die Nadeln entfernt, unter Vollnarkose. In den Wunden sammelte sich aber nicht Wasser und Blut sondern flüssiger Stahl...

Der Kleber

I

Als Herr I. erwachte, lag er in einem Krankenbett, ein Mitpatient laut schnarchend in einem Nebenbett.

„Na, wie geht es denn heute?", fragte die Schwester, die mit einem Tablett hereinkam. Herr I. versuchte Arme und Beine zu bewegen, die in Verbände gepackt waren.

„Ja, nach so einem Unfall braucht es Zeit, da geht es nicht so schnell. Aber Sie kommen sicher bald wieder auf die Beine", tröste die Pflegerin.

„Wie komme ich hierher?", wollte I. wissen und bekam zur Antwort, dass ein netter Nachbar ihn gefunden hätte, kurz nach dem Unfall, Gott sei Dank!

Aha, alles klar. Der Tag verging, wie ein Tag eben im Krankenhaus vergeht: langsam, sehr langsam. Das Einschlafen am Abend fiel schwer, logisch, wenn man nur im Bett liegt, doch nach Mitternacht schnarchte auch Herr I.

II

„Hey, bei der Arbeit einpennen, das haben wir gerne!", lachte und höhnte der Kollege. Er rüttelte Herrn I., der auf dem Tisch der Nachtportiersloge eingeschlafen war.

„Es ist schon sechs! Feierabend! Auf, auf nach Hause! Ach, du hast es gut!", seufzte der Tagesportier und gähnte.

Herr I. blickte um sich, griff die einzige Tasche, die da stand, zog die Jacke über, die am Haken hing, und verließ den kleinen Raum. In der Eingangshalle der Firma wimmelte es schon von Menschen, es hatte wohl die erste Schicht begonnen. Er wurde angerempelt und hin und her gestoßen, erreichte den Ausgang und stand auf der Straße.

„Huhu!", aus einem Auto winkte ihm eine Frau zu. Sie hielt die Autotür auf, er ging hin und stieg ein.

„War viel los heute Nacht?", wollte die Frau wissen, nachdem sie ihm einen flüchtigen Kuss auf die stoppelige Wange gedrückt hatte. „Oder bist du wieder eingeschlafen?"

Sie lachte und sagte, ohne seine Antwort abzuwarten: „Lisa muss heute um elf zum Zahnarzt und Maxis Schulaufgaben solltest du unbedingt kontrollieren, Mathe, du weißt ja."

I. nickte, seine Frau brachte ihn nach Hause, winkte noch einmal aus dem Auto und fuhr zu ihrer Arbeitsstelle. Der Tag verging, wie wohl alle Tage eines Familienvaters vergehen: mit Kinderbetreuung und ein wenig Haushalt. Am Abend, er hatte sich tagsüber kaum einmal hinlegen können, schlief er schon auf dem Sofa ein. Seine Frau deckte ihn zu und schloss leise die Wohnzimmertür.

III

Etwas traf ihn im Gesicht: ein Spritzer, Alkohol. Er erwachte, wischte sich das Gebräu aus den Augen. Grölend stand sein Kumpan vor ihm und schwenkte die Spritflasche hin und her, dann ließ er sich neben Herrn I. auf dessen Lager fallen.

„Mach mal Platz, Kumpel!", fordert er ihn auf, I. rückte zur Seite und sein Rücken berührte die kalte, mit Moos überzogene Wand der Brücke, unter der sie lagen. Der Kollege zog ihm die Decke weg, Herr I. wehrte sich, ohne Erfolg, stand auf und suchte nach Zeitungen, mit denen er sich dann zudeckte. Es begann zu regnen, die Tropfen suchten sich ihren Weg in seinen Unterschlupf und weichten das Papier auf.

„So hat das keinen Zweck", murmelte er, packte seine wenigen Sachen zusammen - man weiß ja nie - und marschierte in die nahe Stadt. Hier waren bereits Bäckereien geöffnet und er erbettelte sich sein Frühstück. Sein Morgengetränk war das eiskalte Wasser des hübschen, städtischen Brunnens.

Allmählich gewannen die Strahlen der Sonne an Kraft und es wurde wärmer. Wohlig saß er nun auf einer Bank und ließ sich bräunen. War das Leben schön!

Der Tag verging, wie wohl jeder Tag vergeht, wenn man „Platte macht": mit Betteln, Trinken und dem Versuch, nicht nachzudenken.

Am Abend lag er wieder unter der Brücke, sein Kollege schlief noch - oder schon wieder - seinen Rausch aus. Beim Leuchten der Sterne schlief Herr I. ein...frei, ungebunden und sehr, sehr einsam.

IV

Er erwachte eng umschlungen. Die Frau in seinem Bett war jung und schön, mit lockigem Haar und einer Figur zum Küssen. Sie schlug die Augen auf, als er sie betrachtete, und ihre dunklen Augen strahlten ihn an: „Ich liebe dich so!", flüsterte sie.

Der Wecker riss die Liebenden aus ihrer Umarmung. Herr I. seufzte, stand auf, richtete das Frühstück und machte sich dann fertig für den neuen Schultag. 16 Kids erwarteten ihn, 16 neugierige, fröhliche, freche, kluge Kinder. Er freute sich auf sie, das Gymnasium, in dem er unterrichtete, war wirklich erstklassig. Klar, nicht billig - warum waren auch die Schulgebühren eingeführt worden, sie spalteten nur die Gesellschaft - aber ihm sollte es recht sein. Er verdiente sein gutes Geld mit leichter Hand, wurde von den Schülern geachtet und von den Eltern umschmeichelt, es ging schließlich um wichtige Noten und die vergab er!

„Guten Morgen, Herr I.!", grüßte ein Kollege.

„Guten Morgen, Herr I.! Guten Morgen, Herr I.!", grüßten die Schüler und zogen ihre Schülermützen - auch eine der Neuerungen. Oder Alterungen? - denn alles schon gehabt und einmal da gewesen...

Herr I. trank noch einen Kaffee im Lehrerzimmer, bereitete sich kurz auf die Stunde vor und ging dann in seinen Klassenraum.

Der Tag verging, wie wohl jeder seiner Tage verging: mit leichter Arbeit, netten Schülern und einer schönen Frau zu Hause.

Am Abend dann ein Konzertbesuch und später eine Kuschelstunde auf der Couch.

V

Herr I. erwachte in einem leeren Raum, die Wände klar und durchlässig. Er trat durch eine Wand und marschierte auf einem durchsichtigen Weg...weiter und weiter und weiter. Ein Ziel gab es nicht, auch kein Zurück, nur diesen Weg. Kein Mensch, kein Tier, kein Strauch, kein Baum, kein Mond und keine Sterne. Leere. Nur die Sonne vor ihm und dieser Weg, dieser verdammte Weg!

Er hatte keine Wahl und musste gehen. Blieb er stehen, jagten Stromstöße durch seinen Leib, nur das Gehen, das Marschieren, das Laufen lieferte Schmerzfreiheit. So lief er der Sonne entgegen, die vor ihm über den Horizont wanderte...von links nach rechts, immer wieder, ohne unterzugehen.

Endlich verharrte sie ganz rechts und sank langsam, sehr langsam. Mit jedem Stückchen der eintretenden Dunkelheit konnte er langsamer gehen, wurden die peitschenden Stromstöße weniger. Als es ganz dunkel geworden war, blieb er stehen, schmerzfrei. Er ließ sich auf dem Weg nieder, legte seinen Kopf auf die Durchlässigkeit und schloss die Augen.

VI

„Geht es dir besser?", fragte seine Frau, als Herr I. erwachte. Wieder ein Krankenbett, wieder ein Krankenhaus.

„Du hast uns allen ganz schön Angst gemacht."

„Warum?", fragte er.

„Du warst gar nicht mehr in dieser Welt, wir sprachen dich an und konnten dich nicht mehr erreichen. Wo warst du? Was ging bloß in dir vor?"

„Ich weiß nicht", murmelte I.

Eine Schwester kam ins Zimmer, ein Tablett mit Medikamenten in der Hand. Sie lächelte Herrn I. an und reichte ihm einen Plastiklöffel mit Tabletten: „Schön schlucken! Die machen Sie gesund!"

Herr I. schluckte, legte sich wieder zurück und schloss die Augen. Frau und Schwester verließen leise das Zimmer, wollten den Schlaf des Kranken nicht stören.

So verging der Tag, wie wohl jeder Tag in der Psychiatrie vergeht: mit Schlafen, Essen, Angst und dem Wunsch, wieder nach Hause zu gehen.

Am Abend bekam er einen Zimmergenossen. Nach dem Abendessen gab es die Nachtmedikamente. Beide schluckten brav.

„Na, bekommen Sie auch den Kleber?", lachte und fragte sein Zimmernachbar.

„Kleber?", Herr I. wusste nicht, wovon die Rede war.

„Na, den Kleber! Das neue Medikament. Hat ja einen bombastischen Erfolg!"

„Was soll der Kleber denn machen? Kleben?"

„Ja! Genau! Sehen Sie, die Persönlichkeit eines Menschen gleicht doch einem Rondell mit Holzstückchen, wie man ihn früher - und auch heute noch - zum Anzünden eines Feuerofens braucht. Dieses Rondell ist mit einem Draht zusammengehalten, beim Menschen aber sind die einzelnen Holzstückchen geklebt, damit die Persönlichkeit nicht auseinander fällt. Verstehen Sie?"

„Bedingt!", meinte Herr I.

„Nun, Sie haben es doch auch erlebt, nicht wahr? Einmal ist man allein, dann inmitten eines schönen Lebens, dann bettelt man auf der Straße oder hat einen miesen Job irgendwo als Nachtwächter. Das sind die einzelnen Gefühlszustände, wenn sie sich isoliert haben. Der Kleber aber, diese neue Tablette, kleistert uns wieder zusammen."

Herr I. schluckte seinen Kleber, jeden Tag zwei Mal und nach ein paar Wochen war er wieder der alte.

Die Ärzte verzeichneten weiterhin einen sensationellen Erfolg mit dem neuen Mittel gegen Psychosen, welches die Aggregatzustände des Gehirns auf ganz neue Art und Weise regulierte.

Auch Henry wurde kurz nach Herrn I. entlassen, wenn auch nur vorübergehend...er faselte zu viel von einem Kleber, der heilen soll und das ist doch verrückt, oder nicht?

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Buchinfos

  • Titel: Herr I. trifft Julius
  • Autor: Angelika Pauly
  • Innenillustration: Gaby Hylla
  • ISBN: 9783960771173
  • Genre: Roman, Erzählung
  • Umfang: 121 Seiten
  • Format: A5, Softcover
  • Empfohlenes Alter: ab 16 Jahre
  • Preis (Print): 9,95 Euro
  • Verfügbar (Printbuch): shop.carow-verlag.de