Leseprobe 1

Herr I.

Farbenapokalypse

Wenn ...
die Welt untergeht
sterben zuerst
die Farben

Das Rot verblasst zu einem Rosa, Blau wird heller und lichter.

Das Grün der Bäume klart auf, verliert sein Gelb, verwässert.

Das Braun der Erde verliert seinen Halt und zerfällt in Grau und Anthrazit.

Schwarz teilt sich auf in die Grundfarben, die von den sterbenden Lichtfarben aufgesogen werden.

Zum Ende hin ist alles weiß, leuchtend weiß, welches klarer wird, wasserklar, durchsichtig und die Materie ins Nichts zieht.

Halte deine Farben fest!

Dieser Aufforderung eines Dichters wollte Herr I. gerne nachkommen, als er bei der Morgentoilette war, denn nichts ist schlimmer als das Weiß, so dachte er und erinnerte sich an gleißende Sonnenhelligkeit und flimmernden hellen Sand und auch an eine Eiswüste im ewigen Licht des Polarsommers.

„Vitalodont", die Zahnpastatube in aufreizendem Rot - was für eine hübsche, leuchtende Farbe - so grell wie gestern? Oder doch etwas blasser geworden? Herr I. hielt sie gegen die Seitenlampen des Spiegels und schaute genauer: Doch, irgendwie nicht mehr so rot, eher rosa. Die blaue Schrift auch wässriger.

Er sah in den Spiegel, tastete mit den Augen sein Gesicht ab. Wurde auch das heller, der Teint blasser? Nein, eher kam das Ergebnis des gestrigen Besuchs im Sonnenstudio durch - frisch, gesund und gebräunt sah er aus. Wunderbar, so sollte es sein. Der Weg zum Büro versank in seinen Gedanken und Träumen vom blauen Meer und Sonnenschein. Realität war aber ein Regentag. Die Tropfen zeichneten Linien auf seinen Schuhen, lösten das Schuhputzmittel auf und ließen schwarze Flecken auf dem Gehweg zurück. Schwarzes auch auf der Treppe, im Fahrstuhl und in seinem Arbeitszimmer in der Firma.

Die Tinte des Kulis lief aus, kurz nachdem er ihn zur Hand genommen hatte und damit schreiben wollte. Ebenso leckte die Farbpatrone des Druckers, der Bleistift zerbrach in seiner Hand, die Mine rollte auf den Boden und löste sich in den letzten Tropfen seines nassen Schuhwerks auf. Die Lederhülle der Unterschriftenmappe fühlte sich weich und schwammig an, es blieben Farbspuren an den Fingern zurück, Herr I. verbrachte den halben Vormittag damit, sich zu reinigen, doch je mehr er sich wusch, um so dunkler wurde seine Haut. Das Schwarz der Gegenstände ging eine Verbindung mit ihm ein und färbte auch sein blondes Haar dunkel.

Schließlich lösten sich die dunklen Farbpartikel aus seiner Kleidung heraus und schwärzten sein Augenweiß. Ein Gang zum Arzt wurde nötig.

„Sie haben eine Schwarzauslösung", meinte dieser, „das kommt schon einmal vor."

Beruhigen konnte der Medizinmann Herrn I. nicht und so suchte er einen Experten auf. Der Professor für Farbheilkunde untersuchte ihn kurz und stellte rasch seine Diagnose: Farbenapokalypse.

Davor hatte sich Herr I. noch am Morgen so sehr gefürchtet, er brach zusammen, fiel ins Koma und erwachte Tage später, fand seinen Körper nun vollständig schwarz vor. Das Krankenzimmer war in Weiß gehalten...Wände, Boden, Betten, Stühle, Schränke, Gläser, Geschirr, Lampen, Schalter und auch der Experte und seine Assistenten kamen ganz in weiß gekleidet herein.

„Wir haben noch eine Entdeckung gemacht", erklärte der Leiter der Station, „Sie ziehen das Schwarz aus allem heraus, mit dem Sie in Berührung kommen. Daher müssen wir sie isolieren. Sie gefährden Menschen und Material und werden selber immer schwärzer."

Herr I. verstand und ließ sich isolieren, lebte fortan in einer für ihn eingerichteten weißen Welt, die sich vom Licht nicht mehr unterschied.

Blind und tastend suchte er noch lange nach den Farben.

Am Tag, als alle böse zu Herrn I. waren

„Guten Morgen, gibt es noch Mohnschnecken?", Herr I. zieht seinen Hut und schaut in die Auslage seiner Lieblingsbäckerei.

„Nein!", die Antwort.

„Oh, schade, dann vielleicht Zitronenrollen?"

Die Verkäuferin antwortet nicht und schaut auch von ihrer Arbeit, dem Einwickeln von Negerküssen, nicht auf.

Herr I. wartet.

„Hallo", fragt er dann vorsichtig, beugt sich über die Theke und berührt die Verkäuferin leicht an der Schulter.

„Ihh, pack mich nicht an!", ruft diese, alle Leute im Verkaufsraum werden aufmerksam und schauen Herrn I. an.

„Sittenstrolch!"

„Lustmolch!"
Das reicht. Herr I. läuft aus dem Laden, die Straße hinunter, lehnt sich keuchend an eine Mülltonne.

„Auch Hunger?", ein Penner taucht aus dem Müll hervor und reicht Herrn I. einen Knochen. Als dieser entsetzt zurückweicht, erklingt brüllendes Gelächter aus den Kehlen der Saufkumpane. Weiter läuft Herr I., streift einen Verkehrspolizisten, der seine Pistole zieht. Ungeschickt weicht er dem fallenden Schuss aus. Blut, Schmerz, Tränen.

„Hilfe", bittet er eine Passantin. Die schaut auf die Wunde, erschrickt, ruft: „Mein neuer Wintermantel, um Gottes Willen, sie beschmutzen ihn!", und stößt ihn weg.

Die Kirche, der Pastor, sicher gibt es dort Hilfe. Die Tür des Gotteshauses fällt ins Schloss, als sich Herr I. ihr nähert. „Gott?", murmelt er und sinkt auf die Stufen des Portals.

„Ja?", ein alter Mann beugt sich über den Verwundeten, begutachtet die Verletzung, holt ein weißes Leinentuch aus der Rocktasche und verbindet sie. Dann zieht er eine kleine Wasserflasche hervor und setzt sie dem Kranken an die Lippen. Dieser trinkt dankbar.

„Besser?", fragt der Alte und Herr I. nickt. Nun hilft der Samariter ihm auf und gemeinsam gehen sie zu einem Haus. In der Wohnstube ist es hell und warm, Herr I. wird auf die Couch gebettet, bekommt eine Decke, Tee und ein Butterbrot, schläft ein. Stunden, Tage vergehen, die Heilung schreitet voran. „Ich bin im Himmel", jubelt Herr I. und lacht seinen Wohltäter an. Als er genesen ist, fragt er: „Gott, kümmerst du dich um jeden Menschen so?"

„Wer, ich?", fragt der Alte und lacht, zieht ein Messer und ersticht Herrn I., stiehlt seine Brieftasche und wirft die Leiche in einen Fluss den Fischen zum Fraß vor.

Kopfschüttelnd geht er dann zurück in sein Haus und murmelt vor sich hin: „Da glaubte noch einer an Gott, ist das zu fassen?"

Weiterlesen? Hier geht es zum 2. Teil der Leseprobe.

Buchinfos

  • Titel: Herr I. trifft Julius
  • Autor: Angelika Pauly
  • Innenillustration: Gaby Hylla
  • ISBN: 9783960771173
  • Genre: Roman, Erzählung
  • Umfang: 121 Seiten
  • Format: A5, Softcover
  • Empfohlenes Alter: ab 16 Jahre
  • Preis (Print): 9,95 Euro
  • Verfügbar (Printbuch): shop.carow-verlag.de